Wilhelm

Der Hund aus dem Tchibokarton

Der junge Wilhelm aus dem Karton.

Kurzum, alles was Wilhelm macht, macht er unter latent renitenter Regelauslegung, aber mit aller Kraft und voller Energie. Die ihm etwas schwer fallende Wissensaufnahme hat dazu geführt, dass Wilhelm die Praxis nur noch unter Aufsicht verlassen durfte. "Wilhelm bitte nicht raus lassen" wurde ein stehender Spruch in der Praxis, bis wir es leid waren und eigens für ihn ein eigenes Türschild angefertigt wurde.

Unser Wilhelm wurde in der Nacht vom 2. Februar 2009 in der Kaiser-Wilhelm-Straße in Berlin-Lankwitz von einer jungen Frau gefunden. Jemand hatte den etwa 10 Tage alten Welpen bei etlichen Minusgraden in einem Tchibokarton unter ihrem Balkon ausgesetzt. Sein Winseln und Rufen hat sie Gott sei Dank auf ihn aufmerksam gemacht. Doch wohin mit so einem jungen Hund?

Na klar ... in unsere Praxis. Eine erste eingehende Untersuchung brachte keinen Befund zu Tage, nur die großen Füße und Ohren fielen ganz besonders ins Auge. Seinen Charakter, den wusste er damals noch gut zu kaschieren. Wir tauften ihn nach seiner Auffindesituation Sir Wilhelm von Tchibo - hätten wir ihm schon damals in die Seele gucken können, er hieße heute sicherlich "Will - the Mouth". Der Schäferhund-Schnauzer-Mischling ist mittlerweile zu stattlicher Größe herangewachsen. Auch deshalb, weil er alles und jedes frisst, was er nur finden kann. Ob Katzen-, Hunde-, Menschen- oder Fischfutter ... Wilhelm eats everything. Und das in wahrhaft affenartiger Geschwindigkeit! Wer da seine Mahlzeit nicht verteidigt, der ist sie sicher los. Ihm beizubringen, dass etwas NICHT ihm gehört, ist ein schier unmögliches Unterfangen. Ebenso wie die Lektion, dass Hunde im Auto NICHT vorne sitzen. Wilhelm wird sich wohl bis ans Ende seiner Tage immer wieder für den Platz hinter dem Lenkrad entscheiden. Eine dritte unvermittelbare Lektion ist die, dass man am Fahrrad NICHT wie ein bekloppter losrennt und so lange wie irre zieht, bis man entkräftet zusammenbricht. Außerdem sieht er überhaupt nicht ein, warum man NICHT in Nachbarsgarten pinkeln sollte, sondern nur in den eigenen.

Wilhelm als ausgewachsenes "Kalb".

Wilhelm und seine Begrüßungen

Die - zugegeben - etwas anstrengende "Wilhelm-Haltung" kompensiert das kindsköpfige Kalb allerdings mit einer ebenfalls überbordend engagierten Freundlichkeit. Du verlässt das Haus nur, um die Post zu holen (das sind knapp ein Meter zum Briefkasten und zurück) und Du wirst empfangen, als ob Du von einer Weltreise zurück kommst. Du glaubst es nicht und gehst noch einmal raus, kommst wieder neu rein und wirst empfangen, als ob die zweite Weltreise gerade zu Ende gegangen ist. Wer sogar einen ganzen Tag weg bleibt, z.B. weil er arbeiten geht, wird so empfangen, wie Armstrong, Aldrin und Collins nach ihrem Mondflug. Und das Tag für Tag für Tag.

Begrüßt werden von Wilhelm heißt aber mitnichten, dass Wilhelm schwanzwedelnd um Dich rum scharwenzelt, von Dir gestreichelt werden will und Dir eventuell liebevoll über Hand oder Backe leckt ... nein, nein, weit gefehlt, Wilhelms Schwanz peitsch alles um, was nicht niet- und nagelfest ist, er rennt Dich um und springt an Dir hoch, will, dass Du ihn halb erdrückst und du spürst den unbändigen Drang, den Derwisch unbedingt in den Schwitzkasten zu nehmen, damit der Dich nicht auffrisst ... und hinterher, da musst Du noch kurz durchwischen, weil Wilhelms Prostata den Druck ebenfalls nicht standhalten kann. Kurzum: Wilhelms Berufung ist es, sich zu freuen. Dazu kommt er mit allem, was er zu bieten hat und beschenkt Dich damit. So ist er halt, unser Wilhelm.

Wilhelm in Sweden (2009).

Eine gute Freundin hat Wilhelm im Winter mit nach Schweden genommen, und da ging es ihm sehr gut, denn er hatte viel Auslauf. Doch nun ist Wilhelm zu uns zurück gekehrt und belebt ab heute wieder unsere Praxis und unseren Alltag.

Und siehe da: Lernen geht doch. Wider Erwarten hat unser vierbeiniger Chaot von Muc-Muc die Vorliebe für Postboten, Paketlieferanten, Blutmänner (die netten Fahrer vom Labor) etc. abgeguckt. Sein abgrundtief grollendes Bellen macht diesen bemittleidenswerten Kreaturen den Weg zum Haus nun noch dramatischer.

Leider hat Wilhelm bei unserem ehemaligen Azubi, der nach zwei Jahren abgebrochen hat, kein endgültiges Zuhause gefunden. Bestürzt mußten wir der Presse entnehmen, dass er mittlerweile im Tierheim auf einen neuen Besitzer wartet.

Wer mit dem Gedanken spielt, Wilhelm zu sich zu nehmen, der kann bei uns wertvolle Tipps und Informationen erhalten. Wir alle sind sehr traurig über diesen Verlauf der Dinge, konnten es aber leider nicht beeinflussen.