Waldemar

Der alte Kater aus dem Wald

Bei uns in der ersten Reihe

Von Susi und Michael

Waldi, das ist nicht nur ein Sportreporter mit Fußball-Blackout, sondern auch der neue Name eines nach unserer Schätzung 15 bis 17 Jahre alten getigerten Katers, den zwei Frauen kurz vor seinem sichtbar nahenden Lebensende an einem verregneten und kühlen Spätoktobertag im Wald fanden. Genauer gesagt fand ihn deren Hund.

Die vierbeinige Spürnase schlich sich vergnügt durchs Unterholz, während und Frauchen den geschützten Waldweg vorzogen. Doch als ihr Hund plötzlich in einer Senke verschwand und trotz aller Lockungen und Kommandos nicht wieder auftauchte, wurde ihnen klar, dass da irgendetwas höchst Interessantes sein müsse. Eine Wildschweinsuhle vielleicht oder ein Fuchsbau. Also Frauchen, nichts wie hin ...

So wurde Waldemar gefunden. Er lag zusammengekauert, gänzlich durchnässt und völlig abgemagert unter einem Baum, wie ein nasser Fellklumpen. Dem Tode näher als dem Leben und nicht mehr im Stande, den Kopf heben. Die nächste Nacht hätte er wohl kaum überlebt. Sein verwahrloster Zustand lässt uns vermuten, dass Waldi entweder schon länger draußen umherstreunerte, oder dass er dort ausgesetzt wurde, weil er irgendjemandem zur Last fiel. Das besorgte Paar jedenfalls nahm den alten Herren mit und brauchte ihn zu uns in die Praxis.

Frau Dr. gab ihm reichlich Infusion, um den Kreislauf zu stabilisieren und den Flüssigkeitshaushalt auszugleichen. Angebotenes Fressen wurde mit Heißhunger verschlungen, fast eingeatmet. Danach dann ab zum Durchwärmen unter eine unserer Rotlichtlampen.

Als wir dann zur Nachmittagssprechstunde kamen und den Neuzugang erstaunt betrachteten, war schon wieder etwas Leben in ihn zurückgekehrt, denn bereits beim ersten Streicheln schnurrte er leicht. Über den Nachmittag haben wir ihn dann medizinisch weiter versorgt, von allem Ungeziefer befreit, sein zotteliges Fell gebürstet und - wo der Kamm nicht durchkam - geschoren. Waldemar - wie wir ihn seinem Fundort gemäß nannten - war bald über den Berg. Schon am ersten Abend stürzte sich unser alter, immer noch etwas mitgenommener Waldschrat mit Heißhunger auf alles Fressbare, was wir ihm vorsetzen.

Die nächsten zwei Wochen verbrachte Waldi fast ausschließlich in seinem Katzenkorb im OP. Fressen, schlafen, weiterfressen, Streicheleinheiten, nochmal fressen, Wärmelampe, wieder schlafen ... Welch ein krasser Unterschied zur feuchtkalten Kuhle im Wald. Wunderbar ... Waldemar genoss es sichtlich.

Seit November begann er dann, sein neues Reich zu erkunden. Den OP kannte er, nun kamen Röntgenraum und Behandlungszimmer dran. Danach erste Ausflüge ins Wartezimmer, was ihn sofort zum Gesprächsmittelpunkt werden ließ.

Seit einer Woche nun ist Waldi nun schon umgezogen, denn er hat sich die erste Etage mit Küche und Wohnzimmer erobert. Letzteres interessiert ihn jedoch weniger. Er hat seinen Lebensmittelpunkt an einem strategisch perfekten Ort aufgeschlagen: exakt der Quadratmeter zwischen den Futternäpfen, der Schublade mit dem Katzenfutter und dem Kühlschrank mit dem Hackfleisch ist nun seiner. Einzig mit Muc muss er sich dieses Filetstück unseren Hauses teilen, die ihm - und das wunderte uns alle schon ein wenig - ohne allzufiel Gegenwehr einen Teil dieses höchstbegehrten Grundes abgetreten hat. Waldi hat sich also nicht nur klammheimlich, leise und mit seinem unwiderstehlichen Katzenblick aus alten, schon leicht trüben Kateraugen in unsere Herzen geschlichen sondern auch - was garantiert ungleich schwieriger war und, wenn es wie hier ums Futterteilen geht, uns nahezu gänzlich unmöglich schien, auch in das Herz von Muc-Muc.
Entscheidend zu Gute kam Waldemar dabei wohl auch seine deutlich fortgeschrittene Alterstaubheit. Denn die leisen Grummel- und Knurrlaute, die Muc ihm zunächst ihr Terrain reklamierend entgegenbrachte, überhörte Waldi mit äußerlich augenscheinlich auch Muc-Muc imponierender stoischer Gelassenheit. "Dann", so schien Muc mit einem sichtbaren Hauch von Resignation zu folgern, "darf der das wohl ...". Und seitdem darf Waldemar das tatsächlich.

So treffen wir nun an nämlichem magischen Ort regelmäßig auf eine fernöstlich anmutende Szenerie. Wollen wir den Küchenbereich betreten, schauen uns links und rechts vom Durchgang - chinesischen Figuren gleich - zwei Kreaturen stumm und erwartungsfroh an. Eine dicke, schwarze Muc und ein - zunehmend dicker werdender - getigerter Waldi. Doch anders als die asiatischen Torwächter, die Chindits, folgen uns die beiden Augenpare ebenso unhörbar wie unübersehbar auf Schritt und Tritt.

Wer sich in der Küche angekommen umdreht, staunt über die Geschmeidigkeit, mit der sich zeitgleich auch unsere Tempelhüter umgedreht haben. Nun - natürlich - in der selbstredenden Erwartung, dass sich die Futterschublade verzuglos öffnen möge, alternativ gerne auch das Kühlschrankfach mit dem Hack, am liebsten beides in beliebiger Reihenfolge, und dass der jeweils diensthabende Dosenöffner die allzeit bereitstehenden Näpfe fülle. Muc - so kennen wir sie gar nicht - lässt Waldi dann sogar unaufgeforderten Vortritt und wartet erkennbar gelassen auf ihren Teil oder auf das, was der alte Herr ihr übriglässt.

Waldi ist also allseits angekommen bei uns. Auf seinen leisen Pfoten und mit seinem gewinnenden Charme hat er sich in Windeseile friedvoll und empathisch seinen Platz zwischen all unseren Findelkindern und Zöglingen gesichert. Und so sitzt er nun standesgemäß bis zu seinem irgendwann endgültigen Lebensabend bei uns in der allerersten Reihe.
Herzlich willkommen, Waldi, alter Mann.